TÜV SÜD Interview mit Andreas Varesi


Interview TÜV SÜDIm aktuellen TÜV SÜD Magazin „TÜV SÜD IN“ wurde Andreas Varesi über die Bedeutung des digitalen Wandels für eines der international führenden Prüfunternehmen interviewt.

Die Welt und ihre Technologien verändern sich ständig – und damit auch die Anforderungen an Prüfunternehmen wie TÜV SÜD. Um für die Zukunft gerüstet zu sein, hat der Vorstand gemeinsam mit dem Konzernbereich Strategie & Innovation sechs Schlüsseltechnologien identifiziert. Hierzu wurde mit dem Trend- und Zukunftsforscher Andreas Varesi darüber gesprochen, welche Bedeutung diese Technologien haben und welche Rolle TÜV SÜD in der digitalen Transformation einnimmt.

Das Interview findet sich auch unter: https://in.tuev-sued.de/digitalisierung/varesi/

„Wir befinden uns in einer massiven Umbruchszeit“

Andreas Varesi

Foto: Kornelija Rade

Herr Varesi, der Begriff „Megatrend“ ist weit verbreitet und wird ständig neu definiert – wie ernst kann man eine solche Bezeichnung eigentlich nehmen?
Megatrends sind von der Dauer her eher auf zehn Jahre ausgelegt. Wenn jetzt im Monatsrhythmus ständig neue Megatrends ausgerufen werden, ist natürlich fragwürdig, was davon tatsächlich ein Trend ist. Zurzeit haben wir die großen Megatrends wie Digitalisierung und Urbanisierung und bestimmte Schlüsseltechnologien. Diese werden uns in den nächsten 10 bis 15 Jahren mit Sicherheit massiv beschäftigen. Nicht nur technologisch, sondern auch gesellschaftlich.

Auch um sich von ständig neuen Megatrends abzugrenzen, hat TÜV SÜD sich auf sechs Schlüsseltechnologien festgelegt. Welche davon werden in Zukunft besonders viel Bedeutung haben?
Ich denke, das Thema künstliche Intelligenz. Da tut sich dramatisch etwas. Das, was wir früher mit Software-Algorithmen manuell programmiert haben, geht jetzt autonom.

Ist diese Technologie deshalb so vielversprechend, weil sie unsere Gesellschaft nachhaltig verändern kann?
In den letzten Wochen ist viel passiert: Zalando hat im März 250 Marketingmitarbeitern gekündigt und sie durch ein KI-Marketing-System ausgetauscht. Und dann der tödliche Unfall des autonomen Uber-Fahrzeugs in den USA im März 2018. Das Interessante daran ist, dass ein menschlicher Autofahrer die Fußgängerin mit Sicherheit auch nicht gesehen hätte, aber die Sensoren des autonomen Fahrzeuges hätten es entdecken müssen. Das ist ein Rückschlag für die Euphorie, die im Silicon Valley herrscht.

Welche Rolle spielt TÜV SÜD in einer solchen Umbruchszeit?
Die Rolle von TÜV SÜD ist aus meiner Sicht, beispielsweise Abnahmekriterien für die Programmierung zu entwickeln. Einfach um zu verhindern, dass Systeme falsche Entscheidungen treffen können. Oder dass ein Blockchain-System anfängt, irgendwelche Gelder in dunkle Kanäle zu schicken. Also das, was eigentlich ein menschliches Problem ist. Denn sobald Menschen in einem System sind, besteht die Gefahr, dass Spielregeln umgangen werden.

Stichwort Blockchain: Menschliches Fehlverhalten wie Betrug oder Manipulation sollen damit ausgehebelt werden. Wie vielversprechend ist diese Technologie?
Auch hier gibt es noch viele offene Punkte, weil sich das Thema so guerilla-mäßig entwickelt hat. Vor Kurzem wurde festgestellt, dass in den großen Bitcoin-Blockchains Dateien enthalten sind, die kriminellen Inhalt haben. Da muss man aufpassen! Zudem ist mittlerweile der Algorithmus, um einen neuen Bitcoin zu generieren, so intensiv, dass ein Bitcoin eigentlich mehr Energie verbrennt als unsere klassische physische Währung. Auch wenn es der Bitcoin-Philosophie widerspricht, ist hier ein Mindestmaß an Standardisierung und Überwachung nötig.

„Wir befinden uns in einer massiven Umbruchszeit, die nicht nur technologisch beherrscht werden muss, sondern in der man jetzt Standards braucht, um gesellschaftlich und gesetzlich zu regulieren.“

Ein weitere Schlüsseltechnologie sind cyberphysische Systeme, oder auch die Vernetzung in der Industrie 4.0. Welche Aufgabe kann TÜV SÜD hierbei übernehmen?
Bei Industrie 4.0 hat man ein großes offenes System, an dem vieles hängt. Von einer Bestellprognose über die Produktion bis hin zur Lieferung. All diese Stellen sind momentan noch sehr unsicher – noch gibt es keine Standardisierung für die Vernetzung. Hier kann TÜV SÜD mit aktiv sein und helfen, Richtlinien festzulegen, um das Netz ein bisschen zu entflechten: Welche Vernetzungen sind okay, welche nicht? Und die Qualifizierung von Daten: Welche kann ich frei verwenden und welche Daten sind wie zu schützen?

Was zeichnet eine Schlüsseltechnologie aus?
Am Ende des Tages setzen sich nur Dinge durch, die dem Menschen enorm Arbeit abnehmen oder sehr effizient und günstig sind. Gerade in der Intralogistik sieht man: die sind schon sehr nah am optimalen Bild von Industrie 4.0 dran. Und das ist nun mal viel fehlerfreier und effizienter als jede manuelle Verarbeitung. Das sind nicht nur Kostenüberlegungen, es gibt auch einen Fachkräftemangel! Ich sehe das bei Kunden, die auf Robotik oder Industrie 4.0 umsteigen, weil sie oftmals gar keine geeigneten Mitarbeiter mehr finden! Eine Schlachterei lässt zum Beispiel Schweinehälften von Robotern zerlegen – eine wahnsinnig komplexe Angelegenheit – weil sie keine Mitarbeiter gefunden hat, die das überhaupt machen wollten.

Wird es sich Ihrer Meinung nach durchsetzen, dass immer mehr Berufe von Robotern durchgeführt werden?
Davon müssen wir ausgehen!

Wieso?
Weil wir keine andere Wahl haben. Ein Beispiel ist die Altenpflege: Ein chinesischer Investor ist bei Kuka eingestiegen, nicht zuletzt, weil das Augsburger Unternehmen in der Robotik für Medizintechnik führend ist. In China wird im Moment klar, dass durch die Ein-Kind-Politik ein gigantischer Pflegenotstand entstanden ist, der gar nicht mehr bewältigt werden kann. Da kommen humanoide Robotiksysteme ins Spiel, die ihrerseits komplett vernetzt sind. Industrie 4.0 endet nicht irgendwo an der Werkbank, wir werden die Vernetzung in allen Bereichen immer stärker vorfinden. Auch aus der Not heraus, dass es uns an einigen Stellen gar nicht mehr gelingt, etwas mit Menschen zu bewältigen.

Wenn überall Menschen durch Technologien ersetzt werden, müssen diese ja von jemandem überprüft werden. Ist TÜV SÜD die letzte menschliche Instanz unserer Zukunft?
Das ist eine schwierige Frage! Ich denke durchaus, dass es die ein oder andere Technologie gibt, bei der man froh über ein System ist, das eben nicht die menschlichen Schwächen mit sich bringt: Mal wird etwas übersehen, mal drückt man ein Auge zu. Ein cyberphysisches System hat klare Vorgaben, nach denen es entscheidet. Ob das erwünscht ist, ist eine andere Sache – ich wünsche es mir ehrlich gesagt nicht.

Aber fehlt dann nicht die Menschlichkeit?
Menschlichkeit ist eine ganz wichtige Geschichte, wenn es um menschliche Existenz oder Schicksale geht. Wenn es um technische Prozesse geht, ist es erst einmal wichtig, dass die Sicherheit hoch ist und dass keine massiven Fehler, die wiederum menschliche Sicherheit und Existenz gefährden könnten, passieren.

Wo sehen Sie TÜV SÜD in der digitalen Zukunft?
Worauf man es eigentlich reduzieren kann: Vertrauen schaffen. Kann ich als Verbraucher den digitalen Systemen trauen? TÜV SÜD könnte dafür sorgen, dass ein Kunde denkt: OK, hier bin ich auf einem sozialen Netzwerk, das TÜV-zertifiziert ist. Spannend wären auch zertifizierte AGBs. TÜV SÜD könnte sozusagen mehr Sauberkeit im Netz schaffen. Ich denke, TÜV SÜD ist heute mehr denn je gefragt als zur Zeit der Dampfmaschinen, in der man vor allem sichergestellt hat, dass einem die Kessel nicht um die Ohren fliegen. Denn die heutige, digitale Welt ist so komplex. Viele Menschen verlieren da einfach den Überblick.

Andreas Varesi ist Unternehmer, Autor, Trend- und Zukunftsforscher. Über acht Jahre war er Geschäftsführender Gesellschafter der Strategie-, Trend- und Marktforschungs-Gesellschaft Technomar. Als Dozent lehrt er die Fächer Trend- und Marktforschung und gibt Innovationskurse. Auch in seinen Vorträgen beschäftigt sich Varesi ausgiebig mit den großen Megatrends und Schlüsseltechnologien unserer Gesellschaft. 

Die TÜV SÜD-Schlüsseltechnologien: 

  • Künstliche Intelligenz
  • Blockchain
  • Cyberphysische Systeme
  • Digitaler Zwilling
  • 3-D-Druck
  • Sensors & Analytics